Das Bettelkind

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war´s; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang´mir ein heiser´Stimmlein in das Ohr:
"Kauft, lieber Herr!" Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.
 

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.
 

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört´ich, mühsam, wie es schien:
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn´Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.
 

Und ich?-War´s Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh´meine Hand zu meiner Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.
 

Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß´mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.

Theodor Storm